Leseprobe Kapitel 3
Eine Krankheit verändert ihr Gesicht
Seit Mitte der 90er Jahre wird in der Behandlung von HIV-infizierten Patienten mit Erfolg die Kombinationstherapie eingesetzt: Die Anzahl der HIV- oder Aids-bedingten Todesfälle ist gegenüber den frühen Jahren der Infektion deutlich gesunken. Damals ging es darum, möglichst lange trotz des Virus zu überleben – heute geht es darum, bei stetig steigender Lebenserwartung die Lebensqualität auf einem hohen Niveau zu halten. Aus anfänglich zehn, vielleicht zwanzig Jahren mit der Infektion ist heute eine statistische Lebenserwartung geworden, die sich kaum noch von der eines HIV-negativen Menschen unterscheidet. Mit fortschreitenden Forschungserfolgen wird auch diese letzte Differenz noch verschwinden.Eines lässt sich allerdings nicht verhehlen: Mit etwa 35 Jahren ist die Krankheit noch recht jung; die Kombinationstherapie mit nicht einmal 20 Jahren noch viel jünger. Und: Auch die Therapie kann die HI-Viren nicht aus dem Körper entfernen – HIV ist nach wie vor unheilbar. Zum heutigen Zeitpunkt sind daher noch keine mittel- oder langfristigen Auswirkungen der Infektion und/oder der notwendigen regelmäßigen Medikamenteneinnahme bekannt. Als gesichert jedoch gilt, dass die durch die Therapie erfolgende Absenkung der Viruslast (VL) unter die Nachweisgrenze (< 20 Kopien/ml Blut) die Gefahr eines Immundefektes umfänglich reduziert. Und je niedriger die Viruslast, desto geringer ist auch die Gefahr einer Ansteckung. Wer heute über einen längeren Zeitraum unter der Nachweisgrenze liegt und einige andere Kriterien erfüllt, gilt als nicht mehr infektiös. Die Therapie ermöglicht den meisten positiven Menschen also ein (fast) normales Leben.
HIV ist von der tödlichen Krankheit zur chronischen und damit behandelbaren Infektion geworden. Sie hat, vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, viel von ihrem früheren Schrecken verloren – Angst muss man vor HIV nicht mehr haben. Aber Respekt. Nicht nur vor der Infektion an sich, sondern auch vor denen, sie sich mit dem Virus infiziert haben. Dies ist kein Grund zur Entwarnung, aber ein Aufruf zum bewussteren Umgang mit der eigenen Gesundheit. Und zum bewussteren Umgang mit erkrankten Mitmenschen. Wer HIV-positiv ist, steckt nämlich nicht automatisch andere Menschen an. Wer aber den Schutz seiner Gesundheit in die eigenen Hände nimmt, kann sich vor einer Infektion (und mehr) schützen.